7. Januar 2023

Standbild (24)

Kikeriki

Innen. Revuelokal. Nacht. Den kleinen, mit Schiffstauen dekorierten Saal bevölkert ein sehr gemischtes Publikum: gutbürgerliche Herren mittleren Alters, Arbeiter, Seeleute, Gaunertypen, dazwischen einige Frauen, manche damenhaft, die meisten eher proletarisch wirkend, mit gebrannten Locken und tiefen Blusenausschnitten. Ein Teil der Zuschauer sitzt auf Kaffeehausstühlen an Tischen, die schier überquellen von halbvollen Gläser und Bierschalen, die anderen betrachten das Bühnengeschehen stehend, mit gereckten Köpfen, die Körper aufmerksam vorgebeugt. Das Podium wird gerahmt von zwei filigranen Beistelltischen mit Fransendecken, das linke trägt einen Henkelkorb, eine Ballonflasche und ein Metallgefäß, über das ein zerbeulter Zylinderhut gestülpt ist, auf dem rechten liegt ein Haufen von einfarbigen Stoffen und Kleidungsstücken. Vom Schnürboden hängen drei große Anker herab, den Hintergrund der Szene bildet ein gebauschter Voilevorhang, hinter dem schemenhafte Lichter zu erkennen sind, die möglicherweise ein überdimensioniertes Gesicht mit fächerförmigem Kopfputz darstellen, vielleicht auch eine nächtliche Großstadt mit erleuchteten Fenstern. In der Bühnenmitte stehen nebeneinander zwei etwa gleichgroße Männer, beide von einer gewissen Korpulenz gekennzeichnet. Links produziert sich ein etwas schmieriger Elegant um die vierzig mit stolzgeschwellter Brust und feistem Gesicht. Auffallend sind seine prallen Wangen, die fleischigen Lippen und der boshaft stechende Blick. Er trägt einen schwarzen Frack, schmal geschnittene Hosen, spitze Schuhe, Weste, weißes Hemd, weißen Binder und einen hochglänzenden Zylinder. In seiner erhobenen rechten Hand hält er ein Hühnerei. Der andere, etwa zehn Jahre ältere, Mann ist bekleidet mit einem unförmigen, knielangen Kittel und schlackernden Hosen aus kleinkariertem Stoff, tütengroßen Manschetten und einem riesigen steifen Kragen, der mit einer absurd kleinen Fliege zusammengebunden ist. Aus dem Kragen ragt ein kugelförmiger, grotesk geschminkter Kopf mit Halbglatze und zerzaustem Haarkranz, Knebelbart und angeklebter dicke Nase. Dieser traurig vor sich hinstarrende Clown unterrichtete einstmals als Professor an einem Gymnasium, bevor er einer Tingeltangelsängerin verfiel, diese heiratete und seinen Beruf aufgab, um sich der reisenden Varieté-Truppe anzuschließen. Zu einem Gastspielauftritt in seine Heimatstadt zurückgekehrt, muß sich die ehemalige Autoritätsperson nun vor den früheren Mitbürgern ein rohes Ei an die Stirn schlagen lassen und hat, solchermaßen gedemütigt, einen Hahnenschrei zu imitieren.

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