29. September 2019

Böhmische Dörfer (2)

Die frühen Filme von Jiří Menzel

Jiří Menzel wurde 1938 in Prag geboren. Nach dem Studium an der Prager Filmhochschule FAMU gehörte er neben seinen Kommilitonen Miloš Forman und Věra Chytilová zu den wichtigsten Vertretern der Tschechoslowakischen Neuen Welle. Sein erster Spielfilm wurde 1968 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet.


1966 | »Ostře sledované vlaky« (»Scharf beobachtete Züge« | »Liebe nach Fahrplan«)

Ort: ein kleiner Bahnhof in Böhmen. Zeit: gegen Ende der großdeutschen Okkupation. Der unbedarfte Jüngling Miloš Hrma (›Golden Kid‹ Václav Neckář) – Sproß einer Familie von Träumern und Faulenzern – tritt, von der Mutter mit einer Schirmmütze gekrönt, seine Stelle als Bahnwärterlehrling an. Umgeben von einem kleintierzüchtenden Stationsvorsteher, einem schürzenjagenden Fahrdienstleiter und einem kollaborateurischen Bahnrat erwirbt Hrma Grundkenntnisse des Eisenbahnwesens, während er gleichzeitig einigermaßen linkische Versuche unternimmt, der angehimmelten Schaffnerin Máša (seelisch wie auch körperlich) näherzukommen. Nach einer Erzählung von Bohumil Hrabal (der während des Zweiten Weltkriegs selbst Dienst auf einem Provinzbahnhof schob) bringt Menzel eine detailverliebte Bildungsburleske ins Rollen, die den liebeskranken Protagonisten immer neuen (persönlichen wie auch historischen) Bewährungsproben aussetzt und dabei Komik und Schrecken wirkungsvoll miteinander verschmilzt – bis hin zur doppelten Explosion eines sexuellen Erwachens und eines in die Luft fliegenden Munitionszuges.

1968 | »Rozmarné léto« (»Launischer Sommer«)

Ein wechselhafter Juni auf dem Lande: drei Freunde in den (sogenannten) besten Jahren – ein Priester, ein Major im Ruhestand, der Besitzer eines Flußbades – schwimmen und angeln, bechern und philosophieren. Die Ankunft eines kauzigen Artisten und seiner bezaubernden Assistentin reißt die Herren aus dem gewohnt behaglichen Alltagstrott: nacheinander buhlen sie (jeder seinem Temperament entsprechend) um die Gunst des blonden Zirkusfräuleins, während die patente Frau des Bademeisters dem Charme des spillerigen Akrobaten erliegt. Menzel blättert in einem Album aus der (sogenannten) guten alten Zeit (die durchaus Kälte, Mißgunst und Bosheit kennt), entbreitet eine wehmütige Idylle der romantischen Sehnsüchte, der zarten Enttäuschungen, der bittersüßen Erkenntnisse, gibt eine heiter-bewölkte Hommage an das Leben, das, so oder so, immer weitergeht.

1969 | »Skřivánci na niti« (»Lerchen am Faden«)

Zu Beginn der 1950er Jahre – der Stalinismus hat die östliche Hälfte der ideologisch geteilten Welt fest im Griff – schuften klassenfeindliche Elemente (männliche und weibliche Delinquenten streng getrennt) auf dem Schrottplatz eines tschechischen Hüttenwerks, um (aus Schreibmaschinen und Kruzifixen, Lokomotiven und Gitterbetten) Rohstoff für die volkseigene Stahlproduktion zu gewinnen: hier (u. a.) ein Philosophieprofessor und ein Saxophonist (dekadentes Instrument!), ein Staatsanwalt und ein junger Koch (der aus religiösen Gründen die samstägliche Arbeit verweigert), dort eine Gruppe von Frauen (die allesamt beim Versuch, das Arbeiterparadies unerlaubt zu verlassen, hopsgenommen wurden), dazwischen ein sanftmütiger Wachmann (der seine liebe Not mit der frisch angetrauten Gattin hat) sowie ein mopsiger Apparatschik (der privat einer Leidenschaft für das Abseifen heranwachsender Mädchen frönt). Menzel inszeniert (einmal mehr nach einer Geschichte von Bohumil Hrabal) kein hartes Drama der Unterdrückung, sondern ein kleines Welttheater der Anpassung und des Ungehorsams, der Kontrolle und des Eigensinns, ein menschenfreundlich-märchenhaftes Gesellschaftsstück voller tragikomischer Zwischentöne und ironischer Anspielungen (der kirmeshafte Werksbesuch eines senilen Ministers, ein nelkendekorierter Propagandadreh der staatlichen Wochenschau), ein sanftes Hohelied der Liebe, die noch im grauesten Grau der volksdemokratischen Gegebenheiten erglimmt.

Unmittelbar nach der Fertigstellung verboten, erlebte »Skřivánci na niti« seine Uraufführung auf der Berlinale 1990, wo der Film den Goldenen Bären erhielt. Menzel, der sich anders als Miloš Forman dazu entschlossen hatte, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in seiner Heimat zu bleiben, wurde mit einem Berufsverbot belegt, bevor er seine Arbeit als Regisseur für das Kino Mitte der 1970er Jahre erfolgreich fortsetzen konnte.

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