Fünf Filme von Alfred Hitchcock
1960 | »Psycho«
»I thought I'd gotten off the main road.« Die Sekretärin Marion Crane (Janet Leigh) stiehlt 40.000 Dollar, um mit ihrem hochverschuldeten Geliebten ein neues Leben beginnen zu können. Auf der Flucht gelangt sie in ein einsam gelegenes Motel, das von Norman Bates (Anthony Bates) geführt wird, einem kauzigen jungen Mann (»My hobby is stuffing things.«), der offenbar unter der Fuchtel seiner gebieterischen alten Dame steht … In »Psycho« geht es Alfred Hitchcock vermutlich weder um Geld noch um Liebe, weder um Diebstahl noch um Mord, weder um Moral noch um Amoral, weder um Kriminalität noch um Kriminalistik, es geht ihm wohl vielmehr um den filmischen Gebrauch dieser Motive zur ungehemmten Manipulation des Zuschauers. Sicher geht es auch um die Last der Vergangenheit und um verzweifelte Selbstbefreiungsversuche, um gespaltene Identitäten und um die Mutter als unsterbliches Monster (»Oh, God, Mother! Blood! Blood!«), vor allem aber geht es um glasklare Schwarzweiß-Fotografie und um die Suggestivkraft von Musik, um minutiös durchkomponierte Schnittsequenzen und um die technische Erzeugung von Emotion. Und es geht um die Unheimlichkeit des Blickes: Blicke in die starrenden Augen ausgestopfter Vögel und in die blendenden Scheinwerfer entgegenkommender Autos, Blicke durch Wandlöcher und durch Duschvorhänge, Blicke in Spiegel und in tödliche Abgründe. Last but not least geht es um Bilder – Bilder, die sich, einmal gesehen, ins Gedächtnis brennen, so wie sich Licht in die Filmemulsion einschreibt.
1963 | »The Birds« (»Die Vögel«)
»Why are they doing this? Why are they doing this?« Beinahe eine Stunde lang nimmt sich Alfred Hitchcock Zeit, eine in sich ruhende, um sich selbst kreisende Welt zu entwerfen. Mit fast ermüdender Weitschweifigkeit schildert »The Birds« das zugleich heile und unheile Dasein der (fast beliebig wirkenden) Protagonisten, widmet sich ausführlich ihren kleinen Vergnüglichkeiten und belastenden Kümmernissen, breitet eingehend Biographien aus, die nicht frei sind von Ängsten und Beklemmung, aber letztlich, im Rahmen einer berechenbaren Unberechenbarkeit, durchaus geregelt verlaufen: Da ist Melanie (›Tippi‹ Hedren), die verwöhnte Erbin, der es an Verantwortungsbewußtsein mangelt, dort ist Mitch (Rod Taylor), der forsche Rechtsanwalt, der ernsthafte Bindungen scheut, da ist Lydia (Jessica Tandy), die Witwe, die ihren Sohn nicht loslassen kann, dort ist Annie (Suzanne Pleshette), die Lehrerin, die sich an eine verlorene Liebe klammert. Kaum merklich durchzucken Momente von Irritation den langen, ruhigen Fluß des Geschehens: eine Seemöwe, die aus heiterem Himmel eine Bootsfahrerin attackiert, Hühner, die nicht fressen wollen, ein Vogel, der nachts bei hellem Mondschein gegen eine geschlossene Haustür knallt. Ganz allmählich nimmt das Unbegreifliche seinen Lauf, schrittweise gerät die Welt aus den Fugen, sukzessive sinkt das Faßliche ins Unfaßbare. Aus gefiederten Freunden werden gnadenlose Killer, harmlose Geschöpfe mausern sich zu Gesandten der Apokalypse. Die Erklärung für die immer brutaleren Angriffe der Vögelschwärme bleibt aus. »The very concept is unimaginable«, befindet eine Expertin. Es geschieht, was geschieht. Der Schrecken ist vollkommen. »It's the end of the world!« ruft ein betrunkener Prophet. Hitchcock legt sich in dieser Hinsicht nicht fest: Er verzichtet auf die Einblendung des »The End«-Inserts.
1964 | »Marnie«
»You Freud, me Jane?« Die frigid-kleptomanische Sekretärin Marnie Edgar (mal blond, mal brünett, mal schwarz: ›Tippi‹ Hedren) und der helfersyndromisch-sadistische Verleger Mark Rutland (Sean Connery) in einem bresthaften Küchen-Psycho-Mutter-Tochter-Schmock (»Why don't you love me, Mama?«) voller naiver Pappkulissen, derber Farbdramaturgie (Rot! Rot! Rot!), grenzwertiger Darstellerleistungen und kläglicher Rückprojektionen. Der Begriff des »Seelenklempners« ist in diesem viktorianisch-triebhaften Thriller-Melo beinahe wörtlich zu verstehen: Mit ein paar einfachen therapeutischen Handgriffen (Assoziationsspiele, Vergewaltigung, Erinnerungsstimulation) gelingt es dem leidenschaftlichen Hobbypsychologen Mark, Marnies verstopften Mentaltraps gründlich durchzuspülen und ihre posttraumatische Belastungsstörung erfolgreich zu beheben. Trotz aller visuellen Pannen und erzählerischen Abgeschmacktheiten gewinnt »Marnie« eine geradezu krankhafte Intensität, denn Alfred Hitchcocks frustrierender amour fou zu seinem, für ihn unerreichbaren, in Anführungszeichen gesetzten Mannequin-Star quillt düster zwischen den Bildern und Dialogen hervor: »I've tracked you and caught you and by God I'm going to keep you.« So verwandelt sich ein triviales Hintertreppendrama in ein obsessives Trauer-Spiel: »I don't believe in luck.« – »What do you believe in?« – »Nothing.« Dazu schauert und schäumt ein vollfetter Score von Bernard Herrmann (der sein letzter für Hitchcock bleiben wird). A guilty pleasure – für alle Beteiligten.
1966 | »Torn Curtain« (»Der zerrissene Vorhang«)
Brian Moore, der irische Schriftsteller, der das Drehbuch zu »Torn Curtain« verfaßte, meinte über das Skript selbstkritisch, daß er es weggeschmissen hätte, wenn es einer seiner Romane gewesen wäre. Auch sonst läßt sich über Alfred Hitchcocks fünfzigsten Film kaum Positives sagen: Die Spionage-Story um einen amerikanischen Wissenschaftler (lasch: Paul Newman), der in der DDR die entscheidende Komponente einer kernphysikalischen Formel auskundschaften will (wobei ihm ungebetenerweise seine Verlobte (bieder: Julie Andrews) hinterdreinkommt), funktioniert weder auf der emotionalen noch auf der Spannungsebene, ist dabei zumeist schwunglos inszeniert, häufig ungelenk geschnitten, (trick-)technisch oft genug nachlässig realisiert. Daß Hitchcock, dem an äußerem Realismus nie viel lag, bei der Darstellung der kommunistischen Ostzone jede Authentizität in die Tonne tritt, daß durch seine Gips-, Papp- und Rückpro-DDR idealistische Untergründler, marodierende russische Soldaten und durchgeknallte polnische Gräfinnen irrlichtern, wäre ihm nicht vorzuwerfen, hätte er die absurden Momente nur nicht so rar gesät. Größtes Manko des öden Streifens sind jedoch die aberwitzig fehlbesetzten Hauptrollen: ›Fast‹ Eddie Felson und Mary Poppins passen in einen Hitchcock-Thriller wie W. C. Fields in eine chorus line. Einen gewissen mimischen Ausgleich schaffen hier die deutschen Nebendarsteller Günter Strack, Hansjörg Felmy und – insbesondere! – Wolfgang Kieling (der kurze Zeit später selbst ins Weltfriedenslager übersiedeln sollte): Als lederbejackter Stasi-Scherge darf Letzterer plastisch veranschaulichen, wie schwierig es ist totzugehen.
1969 | »Topaz« (»Topas«)
Eine Spionagefilm, der wie ein James-Bond-Abenteuer um die halbe Welt führt – von Kopenhagen über Washington, New York und Kuba nach Paris –, auf genreübliche Spannung und Sensationen jedoch weitgehend verzichtet. »Topaz« handelt von der schwierigen Enttarnung kommunistischer Spitzel in hohen französischen Regierungskreisen sowie von der klandestinen Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba, doch mehr als auf die explosive politische Gemengelage des Kalten Krieges richtet Alfred Hitchcock sein Augenmerk auf die zwischenmenschliche Dimension von Lüge und Abtrünnigkeit. Im Mittelpunkt des verzweigten Personengeflechts steht André Devereaux (Frederick Stafford – der sich geheimdienstlich-darstellerische Sporen als Gentleman-Agent OSS 117 verdiente), als französischer Agent in den Vereinigten Staaten stationiert, der nicht nur seine Frau mit einer rassigen kubanischen Freiheitskämpferin betrügt, sondern auch seine berufliche Loyalität (mindestens) halbiert. Der »Held« entpuppt sich dabei als ausgesprochen berechnender Charakter, der (als Spiegelbild der unmenschlichen Verhältnisse) immer wieder andere Figuren aufs Schachbrett schiebt und bisweilen ziemlich ungerührt über die Klinge springen läßt. Hitchcock legt nach den handwerklichen Pfuschereien von »Marnie« und »Torn Curtain« wieder größeren Wert auf sorgfältige Ausstattung und stilvolle Fotografie, inszeniert das breit angelegte, elliptisch strukturierte Werk allerdings bemerkenswert unpersönlich. It’s spy business as usual.
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