22. August 2016

Totgesagte leben länger

Buch | »Geliebt und verdrängt – Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963« herausgegeben von Claudia Dillmann und Olaf Möller (2016)

2012 fragte das Berliner Zeughauskino in einer Filmreihe unter dem Titel »Papas Kino?«, ob der Film der jungen Bundesrepublik tatsächlich »ein Kino der Uninspirierten und Unengagierten« gewesen sei; im gleichen Jahr hat sich das Hamburger Cinefest unter dem Motto »Kalter Krieg und Filmfrühling« der Ansätze zu inhaltlicher und ästhetischer Neuorientierung innerhalb des etablierten Produktionsapparats im deutschen Kino der frühen 1960er angenommen – zwei verdienstvolle Versuche, jenen Teil der deutschen Filmgeschichte (neu) zu erschließen, dem 1962 in Oberhausen ganz pauschal der Totenschein ausgestellt wurde. Im Sommer 2016 widmete sich nun das Filmfestival Locarno in einer umfangreichen, von Olaf Möller zusammengestellten Retrospektive dem bundesdeutschen Film der Ära Adenauer. Der großzügig bebilderte Begleitband versammelt 32 Artikel über Schauspieler und Regisseure, Genres und Motive des bundesdeutschen Nachkriegskinos. Ko-Herausgeberin Claudia Dillmann, Direktorin des Deutschen Filminstituts in Frankfurt am Main und schon im Jahr 1990 Kuratorin einer Ausstellung über den Berliner Produzenten Artur Brauner und die CCC-Film, schreibt über das Publikums- und Starkino der Nachkriegszeit: »Dieses Kino ist lange tot, überall in Europa. Doch nur in der BRD wurde sein Tod als Triumph gefeiert.« Wie überaus lohnend es ist, den Toten einer qualifizierten Leichenschau zu unterziehen, beweisen die Autoren des Buches – unter ihnen Dominik Graf, der über »Männerbilder und ihre Darstellungsstile im westdeutschen Nachkriegsfilm« reflektiert, Rainer Knepperges, der angesichts bemerkenswerter Frauenfiguren und faszinierender Schauspielerinnen dazu anregt, nicht von »Papas« sondern von »Mamas Kino« zu sprechen, und Werner Sudendorf, der sich in leicht ironischem Tonfall den zahlreichen Rührstücken der Zeit widmet. Andere Beiträge beschäftigen sich mit Kriegs- und Heimatfilmen, werfen Seitenblicke auf das damalige filmische Geschehen in der DDR, hinterfragen den Mythos, der bundesdeutsche Film hätte in den 1950er Jahren keinerlei internationale Beachtung gefunden, analysieren das Bild der jungen BRD im amerikanischen, englischen und italienischen Kino, würdigen die Regisseure Victor Vicas (»Weg ohne Umkehr«) und Frank Wisbar (»Hunde, wollt ihr ewig leben«), den Animationsfilmer Hans Fischerkoesen, der unter anderem einen an Hitchcocks »Vertigo«-Alptraum erinnernden Underberg-Spot produzierte, und den jüdischen Regisseur Raphael Nussbaum, der deutsch-israelische Abenteuerfilme drehte. Das Buch erinnert an ein mutwillig weggeschobenes, außerordentlich vielschichtiges kulturelles Erbe, bietet eine Fülle spannender Entdeckungen und überraschender Einsichten, läßt ohne nostalgische Blindgläubigkeit dem Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland und seinen Machern filmhistorische Gerechtigkeit widerfahren

1. August 2016

Aus der Geschichte der Finsternis

Kurzfilme von Ryszard Czekała

Ryszard Czekała wurde 1941 in Bydgoszczy (Bromberg) geboren. Er studierte Animation an der Akademie der Bildenden Künste Krakau, assistierte seinem Lehrer Kazimierz Urbański und war Mitbegründer des Krakauer Trickfilmstudios. Czekała entwickelte mittels stilisierter Cut-Out-Animationen eine sehr persönliche künstlerische Handschrift. Sein Debütfilm »Ptak« (»Der Vogel«) wurde wegen des ausgesprochen düsteren Blicks auf die (nicht nur polnische) Realität von der Zensur verboten. Czekałas folgende Werke erhielten zahlreiche Auszeichnungen auf internationalen Festivals; zwischen 1976 und 1983 realisierte er als Regisseur und Autor vier (Real-)Spielfilme, bevor er zur Animation zurückkehrte. Ryszard Czekała starb 2010 in Krakau.

1968 | »Ptak« (»Der Vogel«)

Die Hauptfigur könnte ein Nachfahre des »Letzten Mannes« von Murnau sein; zwischen der Herrentoilette, wo er arbeitet, und der kargen Wohnung, in der er lebt, führt ihn sein Weg immer wieder an einer Tierhandlung vorbei. Der Mann, dessen Existenz keine Freiheiten kennt, träumt davon, einen Vogel zu kaufen; dafür spart er jeden Groschen, den er verdient. Czekałas aus vorwiegend dunkel schraffierten Flächen gefügter Legetrick veranschaulicht einen Zustand von Entfremdung durch die eindrückliche Schilderung alltäglicher Verrichtungen: Brot schneiden, Geld zählen, Klobecken putzen, lange Gänge durch die Straßen der abweisenden Stadt.

1970 | »Syn« (»Der Sohn«)

In dieser illusionslosen Betrachtung über das Verhältnis von Alt und Jung, Stadt und Land, Gestern und Heute forciert Czekała seinen künstlerischen Ausdruck: Figuren und Settings erscheinen zugleich abstrakter und einprägsamer, radikale Bildanschnitte, Schärfenverlagerungen zwischen den Ebenen und sparsamer Einsatz von Geräuschen schaffen Szenen von poetischer Expressivität. Der Sohn, der in der modernen Welt Karriere gemacht hat und ein flottes Auto fährt, ist der ganze Stolz seiner Eltern, die geblieben sind, was sie immer waren: einfache Bauersleute, die tagsüber das Feld bestellen und abends ihre Suppe essen. Auch wenn die Generationen noch gemeinsam am Tisch sitzen, haben sie sich doch nichts mehr zu sagen.

1970 | »Apel« (»Appell«)

Appell in einem Konzentrationslager. Die Handlung des Nachtstücks läuft in Echtzeit ab. Der Kommandant tritt vor die Häftlinge und brüllt: »Nieder! … Auf! … Nieder! … Auf!« Er brüllt es so lange, bis einer der Häftlinge stehenbleibt. Dann brüllt der Kommandant: »Feuer!« Eine Studie der organisierten Grausamkeit, so dämonisch wie lakonisch. Czekała nutzt die eindringliche Schilderung des monströsen Ereignisses zur Erweiterung seiner bildnerischen Formensprache um dramatische Licht- und Schatteneffekte.

1971 | »Wypadek« (»Der Unfall«)

Der letzte Tag eines einsamen Mannes. Schwerfällig erhebt er sich vom Tisch, schafft Ordnung im verwahrlosten Zimmer, wäscht und rasiert sich, repariert einen kaputten Schuh, näht einen abgerissenen Knopf ans Hemd, kleidet sich an, schließt das Fenster, verläßt die Wohnung. Wenig später liegt der Mann tot auf dem Straßenpflaster, und für einen Augenblick wird er zum Gegenstand des allgemeinen Interesses. Czekała inszeniert seinen ersten Realfilm wie die vorangegangen Animationen: das Gesamtbild des Geschehens setzt sich aus einer Folge von, einzeln betrachtet fast ungegenständlich wirkenden, präzisen Details zusammen.

1973 | »Sekcja zwłok« (»Die Autopsie«)

Eine Junge wird blind geboren, tastet sich hilflos durch die Welt. Die Mutter kann das Leid nicht ertragen, macht ihm ein Ende. Erlöst sie sich oder das Kind? Der Priester erteilt die Absolution, vor der Kirche wartet die Polizei. Bresson scheint Pate gestanden zu haben bei diesem Versuch der unmöglichen Klärung einer Schuldfrage. Erstmals arbeitet Czekała in Farbe, seine Palette bleibt freilich so eingeschränkt wie die Möglichkeiten seiner vom Unheil befallenen Protagonisten.

1973 | »Dzień« (»Ein Tag«)

Auch in seinem zweiten Realfilm, einer Reflexion über das Vergehen der Zeit, variiert Czekała die in den Trickfilmen entwickelten Mittel, montiert aus dem Dunkel auftauchende Einzelheiten zur anschaulichen Beschreibung einer konkreten (Lebens-)Situation. Nach einem schweren Gewitter erklingt im Zimmer heitere Musik vom Grammophon. An den Wänden hängen Bilder eines starken Mannes, der zahlreiche Preise, Orden und Pokale gewonnen hat, Erinnerungen an Jugend, Kraft und Ruhm. Viele Jahre sind seit damals vergangen. Ein Schatten zieht langsam durch den Raum, neben dem Bett stehen die Krücken.